Im konkreten Fall hat ein Lagerarbeiter*, der im Jahr 2019 an 103 Tagen krankgeschrieben war gegen seine Kündigung vom 26. Februar 2020 geklagt mit der Begründung, seine Kündigung sei sozial ungerechtfertigt.
Auf Einladung der Beklagten führten die Parteien am 5. März 2019 ein Gespräch zur Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (bEM), in dem auch vom Kläger unterzeichneten Erhebungsbogen vom selben Tag ist ua. angegeben, dass kein „zusätzlicher Sachverständiger (z.B. Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitsschutz/Arbeitssicherheit)“ eingebunden werden soll. Der Kläger war nach dem 5. März 2019 bis zur Kündigung erneut an 79 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank.
Aufgrund der erneuten Arbeitsunfähigkeit von 79 Tagen hat der Beklagte gemeint, die Kündigung sei aus Gründen in der Person des Klägers sozial gerechtfertigt. Ein erneutes bEM habe sie vor dem Kündigungsausspruch nicht durchführen müssen.
Das BAG begründete seine Entscheidung damit, dass „(12,1) eine auf Gründe in der Person des Arbeitnehmers gestützte Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn sie zur Beseitigung der eingetretenen Vertragsstörung nicht geeignet oder nicht erforderlich ist. Eine Kündigung ist durch Krankheit nicht iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG „bedingt“, wenn es angemessene mildere Mittel zur Vermeidung oder Verringerung künftiger Fehlzeiten gibt. Solche Maßnahmen können insbesondere die Umgestaltung des bisherigen Arbeitsbereichs oder die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers auf einem anderen – seinem Gesundheitszustand entsprechenden – Arbeitsplatz sein. Darüber hinaus kann sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Verpflichtung des Arbeitgebers ergeben, es dem Arbeitnehmer vor einer Kündigung zu ermöglichen, ggf. spezifische Behandlungsmaßnahmen zu ergreifen, um dadurch künftige Fehlzeiten auszuschließen oder zumindest signifikant zu verringern (vgl. BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 24, BAGE 150, 117).“
(13.2) „Der Arbeitgeber, der für die Verhältnismäßigkeit der Kündigung nach § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG die Darlegungs- und Beweislast trägt, kann sich zwar im Kündigungsschutzprozess grundsätzlich zunächst auf die Behauptung beschränken, für den Arbeitnehmer bestehe keine andere – seinem Gesundheitszustand entsprechende – Beschäftigungsmöglichkeit. War der Arbeitgeber jedoch gem. § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX zur Durchführung eines bEM verpflichtet und ist er dieser Verpflichtung nicht nachgekommen, ist er Darlegungs- und beweispflichtig dafür, dass auch ein bEM nicht dazu hätte beitragen können, neuerlichen Arbeitsunfähigkeitszeiten entgegenzuwirken und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Die Durchführung eines bEM ist zwar nicht selbst ein milderes Mittel gegenüber der Kündigung. § 167 Abs. 2 SGB IX konkretisiert aber den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe eines bEM können mildere Mittel als die Beendigung des Arbeitsverhältnisses erkannt und entwickelt werden (BAG 20. November 2014 – 2 AZR 755/13 – Rn. 38, BAGE 150, 117).“
Damit stärkt der BAG die gesetzliche Vorgabe zur Durchführung eines BEM-Verfahrens und klärt die bisher umstrittene Frage, ob innerhalb eines zwölfmonatigen Zeitraums, bei wiederholter Arbeitsunfähigkeit von mehr als sechs Wochen, ein weiteres BEM durchzuführen ist. Das BAG hat in seiner neuen Entscheidung dies nun eindeutig geklärt und mit „Ja“ beantwortet.
Die Nichtdurchführung eines BEM führt damit zu einem erhöhten Schutz für den Arbeitnehmer*, und zu einer prozessualen Hürde für den Arbeitgeber. Die Nichtdurchführung des BEM durch den Arbeitgeber kann bereits zu Beginn einer Kündigungsschutzklage dazu führen, dass aus formellen Gründen dem Kläger* stattgegeben wird.
*der leichteren Lesbarkeit halber wurden bei allen Bezeichnungen die grammatikalisch männliche Form gewählt. Gemeint sind jedoch Personen jeder Geschlechtsidentität.
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Quelle: BAG, Urteil v 18. November2021 – 2 AZR 138/21